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Psychosoziale Begleitung

 

Kognitive Defizite, Krankheiten und Psychodynamiken werden berücksichtigt. Die Betroffenen werden beim Ausbau und bei der Erhaltung von Ressourcen und ihrem Aktionsradius unterstützt. PsychologInnen und AusbildungskandidatInnen zu Klinischen und GesundheitspsychologInnen arbeiten als Co-TherapeutInnen mit.

 

 

Beispiel einer psychosozialen Betreuung: Wege aus der inneren Leere heraus, erzählt von Lisa Zobler und Bettina Fraisl

Als ich Herrn Müller[1] zum ersten Mal begegne, sitzt er in der Wohnküche und blickt starr vor sich hin. Meine Begrüßung erwidert er kurz und knapp, überhaupt scheint er keinerlei Interesse an seiner Umgebung zu haben. Ich setze mich zu ihm, frage nach seinem Befinden und versuche ein Gespräch in Gang zu bringen, doch die Antworten des 55jährigen bleiben einsilbig uninteressiert. Alles sei in Ordnung, meint er, halt langweilig sei ihm. Warum er sich in einem Wohnheim befindet, wie lange er bereits hier ist oder wie er in diese Stadt gelangt ist, weiß er nicht. Meine Einladung, mit ihm draußen spazieren zu gehen, nimmt er nach mehreren Anläufen an. Als er aufsteht, sehe ich, dass er fast 2m groß sein muss. Beim Gehen wankt er stark, als falle es ihm schwer, das Gleichgewicht zu halten.

Vom Therapieplan von Herrn Müller weiß ich, dass er vor 5 Jahren stark alkoholisiert von einer Brücke stürzte und sich dabei ernsthafte Kopfverletzungen zuzog. Nach einem längeren Klinik- und Rehabilitationsaufenthalt kam er wegen akuter Verwirrung und Selbstgefährdung auf die Psychiatrie und wurde schließlich in einem Wohnheim dauerhaft untergebracht.

 

Es stellte sich heraus, dass er vorher bereits einige Zeit lang obdachlos und Alkoholiker gewesen war, in verschiedenen Ländern gelebt und diverse Berufe ausgeübt hatte. Seit seinem Sturz kann er eigene Bedürfnisse kaum ausdrücken und ist in seinem Denken sehr verlangsamt und eingeengt. Herr Müller kann sich fast nichts mehr merken von den alltäglichen Dingen und Abläufen, die ihn umgeben und mit denen er zu tun hat; was seine Vergangenheit betrifft, scheinen die letzten 7-10 Jahre aus seinem Gedächtnis gelöscht zu sein. Er ist äußerst passiv und antriebslos und zeigt keinerlei emotionale Regungen, ungeachtet dessen, womit er konfrontiert wird. Er spricht nie, wenn er nicht gefragt wird.

Das Pflegepersonal vom Wohnheim trat an die Gesundheitsschmiede Tirol – Verein für psychosoziale Gesundheit im Alter heran mit der Bitte, Herrn Müller im Rahmen unseres psychosozialen Therapieangebots zu betreuen, da es praktisch unmöglich war, ihn ins Heimleben zu integrieren, er sich über seine Situation nicht im Klaren war, sein Leben nicht nur als langweilig, sondern auch als trostlos empfand und Tätigkeiten wie Haare waschen endlos nacheinander wiederholte.

Mittlerweile wird Herr Müller seit gut zwei Jahren von uns betreut. Hauptziel der psychosozialen Therapie von Herrn Müller ist es, seiner inneren Leere durch Integration und Anpassung an seine derzeitige Lebenssituation zu begegnen.

Die innere Leere ist innerhalb der vierten existenzanalytischen Grundmotivation als Kerngefühl verortet.[2] Hier geht es zentral darum, Sinnerfüllung im Leben dadurch zu finden, dass man sich auf das Leben und die Menschen einlässt, handelnd tätig wird, in Verbindung tritt. Aufgrund seiner spezifischen Geschichte, insbesondere des Sturzes und seiner Folgen, gelingt es Herrn Müller nicht, diese personalen Aktivitäten zu entfalten. Stattdessen verharrt er in den so genannten Coping-Reaktionen des Stillhaltens, der Passivität, des Ohnmächtig-Lebens und des Sich-nicht-Einlassens. Würde Herr Müller es schaffen, das Gefühl der Leere auszuhalten und seine Situation besser zu verstehen, könnte es gelingen, dass er sich wieder mehr auf das Leben und die Menschen einlässt. Unser Ziel ist es, ihn dabei zu unterstützen.

Einmal pro Woche besucht eine Psychologin Herrn Müller für eine Einheit von 50 Minuten, um ihn zu aktivieren, zu orientieren, in therapeutischen Gesprächen seine Beeinträchtigungen und Verluste mit ihm aufzuarbeiten und sein Umfeld mit ihm zu gestalten. Im Verlauf der Therapie verschwanden die sich wiederholenden Handlungen zur Gänze, doch die Antriebslosigkeit und sein Nichtreagieren auf seine Umgebung änderten sich zunächst nicht, bis auffiel, dass Herr Müller sich stets gegen Ende einer Betreuungseinheit etwas mehr zu öffnen begann. Als nunmehr betreuende Psychologin fing ich an, die Besuchseinheiten auf zwei, d.h. auf 100 Minuten, auszuweiten, und erlebte eine eindrucksvolle Veränderung.

Herr Müller beginnt nun nach einer jeweils längeren „Aufwärmphase“ nicht nur mehr zu reden, sondern tatsächlich von sich aus zu erzählen und sogar Fragen zu stellen. Zunehmend werden seine Erzählungen auch von einem dazu passenden emotionalen Ausdruck begleitet – von Lachen oder Traurigkeit etwa. Ihm fehle die Freiheit, sagte er einmal traurig, die Freiheit nach Hause zu gehen oder überhaupt sich frei zu bewegen.[3] War es vorher manchmal eine Herausforderung, die 50 Minuten sinnvoll zu füllen, gestalten sich die 100 Minuten mit Herrn Müller nun als belebt und dialogisch. Faszinierend ist, wie selbst seine Erinnerungslücken neuerdings kleiner werden: Herr Müller kann sich zunehmend daran erinnern, wie er vor dem Heimeinzug in der Stadt gelebt hat, wie es war, obdachlos zu sein, wo er überall genächtigt hat, wie er sich ernährt hat und mit wem er sozialen Kontakt pflegte. Dies führt auch dazu, dass er die Annehmlichkeiten im Heim nun besonders zu schätzen weiß – dass er beispielsweise regelmäßige Mahlzeiten erhält, einen Fernseher und ein eigenes Bad mit Dusche hat, empfindet er fast als Luxus und bezeichnet es als Leben wie im Hotel.

Es ist schön zu sehen, wie Herrn Müllers Coping-Reaktionen mehr und mehr in den Hintergrund treten und seine personalen Aktivitäten des Sich-Einlassens, des Tätig-Werdens und der Verbundenheit wieder zum Leben erwachen. Auch wenn an eine vollständige Heilung nicht zu denken ist, hat sein Leben für ihn deutlich an Sinn gewonnen, ist lebenswerter geworden. Ich freue mich, Herrn Müller weiter auf diesem Weg begleiten zu können.

[2] Die von der Gesundheitsschmiede Tirol angewandte psychosoziale Therapie ist existenzanalytisch fundiert.

[3] Aufgrund seiner Orientierungslosigkeit kann ihm das nicht erlaubt werden.

[1] Der Name wurde geändert. Das Bild auf dieser Seite steht in keinerlei Zusammenhang mit diesem Text.

 

Wenn die Zeit still steht, erzählt von Bettina Fraisl

Alma ist verhältnismäßig jung, in ihren 40ern, und sie lebt bereits seit einigen Jahren in einem Wohnheim, da sie aufgrund einer Krankheit, deren Ursache niemand wirklich erklären kann, geistig, körperlich, manchmal auch emotional stark beeinträchtigt ist. Alma kann nicht mehr gehen, sie liegt tagaus tagein in ihrem Bett und freut sich darüber, wenn ich zu ihr komme, wenngleich ihr Gedächtnis ein bewusstes Wiedererkennen kaum erlaubt.

Am liebsten spielt und redet sie, in einer Sprache, die nicht leicht zu verstehen ist. Alma hat viel zu erzählen, von ihrer schweren Kindheit mit vielen Schlägen, einer frühen Schwangerschaft, die sie allein bewältigen musste, von ihrer Arbeit und ihrem Kind, das woanders aufwuchs und das sie seit langem nicht gesehen hat und vermisst. Eines Tages frage ich Alma nach dem Vater des Kindes, und sie erzählt von seinen tiefblauen Augen. Ein verliebtes Lächeln zeigt sich auf ihrem Gesicht, wenn sie von ihm erzählt, obwohl er sie verlassen hat, als sie schwanger war, und sich nicht wieder um sie oder das gemeinsame Kind kümmerte. Nein, sagt sie, hassen könne sie ihn nicht. Ihr Kind habe die tiefblauen Augen geerbt, ein so tiefes Blau. Ich sehe dich förmlich in den Strom dieser Augen kippen, so wie du das beschreibst, antworte ich, und Alma nickt versonnen. Während sie erzählt, wie sie dann allein blieb, zuerst mit dem Kind, dann ohne Kind, und wie er eine andere Frau heiratete und andere Kinder bekam, nimmt sie wie nebenbei meine Hand und hält sie ganz fest. Als sie zu Ende erzählt hat, zieht sie mich zu sich, umarmt mich ganz fest und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Sie sieht glücklich aus. Ich bin ganz berührt und umarme sie fest zurück. Für mich ist das einer dieser magischen Momente, in denen die Zeit still zu stehen scheint, weil ihre Vergänglichkeit in der Verbindung aufgehoben ist.